Sie hatte es nicht so leicht in ihrem Leben. Doch wer hat das schon. Die Zeitlinie eines jeden Menschen besteht aus Erfahrungen, die negativ, positiv oder unbewertet sind. Die unbewerteten Erlebnisse werden schnell wieder vergessen. Die positiven bleiben teilweise als Erinnerungsfetzen gespeichert und werden in nostalgischen Momenten verzerrt wieder heraufgeholt und in schiefen Kontexten neu abgespeichert. Interessant sind vor allem die negativen Erlebnisse. Diese verweben sich je nach Intensität und Lebensalter mit den verschiedenen Ebenen, die einen Menschen ausmachen. Mit Sinneswahrnehmungen, Persönlichkeit, Vertrauen sich selbst und anderen Menschen gegenüber, mit der Wahrnehmung des Selbst in einer potenziell bedrohlichen Welt. So war das bei ihr. Deshalb saß sie nun bei ihm, einem erfahrenen Therapeuten, der sie mit seinen verwuschelten Haaren liebevoll anschaute. Sie fragte sich, ob er genug geschlafen hatte. Seine Haare waren nicht immer so. Aber an diesen Tagen fühlte sie sich besonders wohl bei ihm. Er war anders als die Therapeuten, die sie auf ihrem Weg schon kennengelernt hatte. Manchmal war er wie ein lieber Vater, manchmal wie ein Freund. Er schien ihr zuzuhören und zwang ihr keine seltsamen Deutungen auf. Ein Mann im Alter ihres Vaters, der nicht übergriffig war. Genau das brauchte sie.
„Wie wäre es, wenn du dich selbst lieben könntest? Wie würde sich dein Leben verändern? Kannst du dir das vorstellen?“ fragte er. „Es gibt Menschen, für die du ein Engel bist!“
Sie schaute ihn kurz an, um ihre Augen sofort wieder wandern zu lassen. Direkter Augenkontakt war ihr sehr unangenehm. Ihre Stirn runzelte sich etwas, während sie versuchte zu verstehen, wie er das gemeint haben könnte. Warum diese Übertreibung mit dem Engel? Sie hasste sich nicht und sie konnte auch nicht von sich behaupten, dass sie sich nicht mochte. Manche Dinge aber mochte sie nicht an sich. Und diese hatten meistens mit anderen Menschen zu tun. Mit der erwarteten Bewertung durch andere und manchmal auch mit einem erwarteten Angriff. Sie erwartete, dass andere Menschen sie nicht lieben. Dass sie über sie herfallen würden, sobald sie Schwäche zeigte und dass dies in einem großen Gelächter der anderen endete. Die Menschen, die sie als Kind hätten schützen sollen, haben sie missbraucht, geschlagen und verraten. Die Versuche, sich Hilfe zu holen, waren gescheitert. Denn andere glauben dir nicht, wenn du in deiner Familie missbraucht wirst. Sie wollen es nicht glauben. Denn wenn das bei dir passieren kann, dann kann es in jeder Familie passieren, auch in ihrer eigenen. Und das darf auf keinen Fall sein.
Ein Engel. „Ich fänd es schon ok, wenn ich mich einfach nur mag. Wenn ich selbstverständlich in der Welt sein könnte, als hätte ich eine bedingungslose Daseinsberechtigung oder sowas“, erwiderte sie endlich.
„Aber jetzt stell dir doch mal vor, du würdest dich nicht nur mögen, sondern richtig lieben. So richtig grandios! Wie würdest du leben, wenn das so wäre?“
Sie spürte einen starken Widerstand in Kopf, Hals und Bauch. Die Stimme ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf: „Du bist so eingebildet und denkst du bist was Besseres.“ Sie hatte es als einziges Kind aus ihrer Familie auf das Gymnasium geschafft. Obwohl die Grundschullehrerin ihr sehr oft sagte, dass sie das nicht kann. Normalerweise sind Eltern stolz, wenn ihr Kind auf ein Gymnasium gehen kann. Doch ihre Mutter, die nur Grundschulbildung hatte, schien sich dadurch bedroht zu fühlen. Jedes neue Fremdwort oder Wissen, das über das eigene hinausging, wurde von ihr wie ein verbaler Angriff beantwortet. „Die Gebildeten sind Menschen, die eingebildet sind, sich als was Besseres fühlen und mit solchen wollen wir nichts zu tun haben“. Eingebildet zu sein war ganz schlimm und Selbstliebe und Stolz wurden verachtet in dieser Familie. So sprang in ihr nun die Idee der Selbstliebe zwischen Bauch und Kopf hin und her und stiftete Verwirrung.
Kopf: „Menschen dürfen und sollen sich selbst lieben und schätzen. Völlig klar! Auch du!“
Bauch: „Alle, aber du nicht! Denn dann du wirst arrogant und dafür werden dich alle hassen! Geh nicht in diese Falle!“
Mund: „Ich weiß nicht.“
Sie stellte sich vor, wie andere Menschen sich selbst lieben. Was waren das für Menschen? Wie er ihr gegenüber saß. Ihn zu lieben war nicht schwer. Ein wunderbarer Mensch mit sehr unterschiedlichen Interessen. Sie wusste, dass er sehr spirituell war. Trotzdem ging er respektvoll mit ihrer skeptischen Weltanschauung um. Er schaffte es, dass Menschen sich in seiner Nähe wertgeschätzt fühlen. So wie sie waren. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er sich lieben kann. Ihr fiel ein, dass ihr Vorgesetzter ein ähnliches Gefühl in ihr auslöste. Auch er war ein Mann, in dessen Nähe sie sich wertgeschätzt und gesehen fühlte. War etwa Selbstliebe die Erklärung dafür?
Die Stunde war zu Ende. „Du schreibst doch so gerne“, riet er ihr. „Vielleicht kannst du ja eine Geschichte darüber schreiben, wie dein Leben aussehen würde, wenn du dich so richtig lieben könntest.“
„Ich werde es versuchen.“