Als meine jüngste Tochter in den Kindergarten kam, hatte ich etwas mehr Zeit für mich. Ich nahm mir vor, mal wieder einen Versuch mit Psychotherapie zu starten. In der Vergangenheit gab es ein paar Versuche, die allerdings eher enttäuschend waren. Da war dieser eine Jugendtherapeut, der total ausrastete, als ich ihm von meinen Suizidgedanken erzählte. Er lief aufgeregt im Raum umher und fuchtelte mit seinen Armen wild herum. Dabei schrie er mich an, ich dürfe sowas niemals sagen, sonst würde er die Therapie sofort beenden. Nie wieder ging ich zu diesem Menschen. Leider begegnete ich ihm zwei Jahre später in einer Säuferkneipe. Meine Freundin arbeitete dort und ich wollte ihr kurz hallo sagen. Ich war mir erst nicht sicher, ob er es war. Ein total betrunkener, ungepflegter Mann. Ihm war ein Bart gewachsen und die Brille saß schief auf seinem roten Gesicht. Er dagegen erkannte mich sofort und genierte sich nicht, dies seinen Saufkumpanen in einer lauten Saufstimme kundzutun: „Die kenn ich doch! Das ist doch…“ da hatte ich den Laden bereits verlassen.
Eine weitere Therapieerfahrung ist ganz verschwommen in meiner Erinnerung. Sie war eine nette ältere Frau mit einem kleinen Tick. Am Ende eines jeden Satzes fragte sie „nich?“ und dabei schnellte ihr Kopf ruckartig nach vorne, scheinbar losgelöst vom Rest ihres Körpers. Ich erschrak mich wirklich jedes Mal. Aber trotz ihrer kleinen Macken gab sie mir eine Richtung. Sie kam zum ersten Mal auf das Thema Trauma, klärte mich allerdings auch darüber auf, dass sie nicht die Kompetenz hatte, um mich dahingehend zu behandeln. Und ich war wahrscheinlich auch noch nicht bereit, mich in diese Richtung zu öffnen.
Nun aber wollte ich es noch einmal versuchen. Ich merkte, dass mir das Leben, wie es war, nicht reichte. Ich wollte mehr, traute mir aber eigentlich gar nichts zu. So ging ich auf die Suche und fand B.U., eine Therapeutin, die ungefähr im Alter meiner Mutter war. Sie nahm leider keine Kassenpatienten und so musste ich die Therapie erstmal selber bezahlen. Aber ich dachte mir, wenn sie mir hilft, dann ist es mir das Geld wert und wenn nicht, dann lasse ich es bleiben. Vom ersten Moment an fühlte ich mich richtig bei ihr. Sie schien zu verstehen, was mit mir los war, auch wenn ich noch lange Zeit nicht darüber sprechen konnte, was ich erlebt hatte. Stabilisierung war angesagt. Und immer wieder herantasten, merken, wenn es zu viel wird und wieder stabilisieren. Langsam entwickelte ich eine Vorstellung von einem Leben. Da schlummerte etwas in mir, eine Kraft, die ich nicht kannte und die mich doch so sehr am Leben hielt, wenn es schwierig war.
Ich fand langsam Worte für das Unaussprechliche. Zunächst nicht mit dem Mund. Um meine Redeblockaden auszugleichen, griff ich zu Papier und Stift. Anfangs trickste ich mein Gehirn aus, indem ich schlimme Erlebnisse in Spiegelschrift formulierte. Das half mir dabei, mich mitzuteilen, ohne dabei ständig in dissoziative Zustände zu fallen.
Um mir Mut zu machen, meine Ängste zu überwinden, hatte B.U. diesen Satz, den sie immer wieder sagte: „Wo die Angst ist, da geht es lang!“. Noch heute ist das für mich ein wichtiger Leitsatz, der mir dabei hilft, doch nochmal einen Schritt weiterzugehen. Und dann noch einen.
Im Laufe dieser Therapie schaffte ich es, mich von den Tätern emotional und räumlich weiter zu distanzieren. In dem Bewusstsein, dass nur ich für mich etwas ändern kann, brach ich den Kontakt ab. Den bis dahin stets mitschwingenden Wunsch, von diesen Menschen gesehen und ernstgenommen zu werden, gab ich auf. So konnten diese ihr Schweigen und ihre nach außen gelebte heile Welt aufrechthalten und ich konnte mich jenseits dieser Fesseln weiterentwickeln. Ich zog mit Mann und Kindern in eine andere Stadt. Dadurch war ein zufälliges Aufeinandertreffen mit den Tätern ausgeschlossen. Ein wunderbares Gefühl.
Der Umzug war gleichzeitig das Ende der Behandlung bei B.U. Einerseits war die Entfernung zu groß, andererseits ging es mir in dieser Zeit sehr gut. Zuversichtlich schritt ich voran, hatte in gewisser Hinsicht „das Laufen gelernt“. Danke, B.U. <3