Heiligabend. Die Familie ist zur Ruhe gekommen. Das Jahr ist fast vorbei. Ein weiteres Jahr, in dem sie leben konnte. Und es scheint jedes Jahr besser zu werden. In diesem Jahr hat sie ihren Bachelorabschluss gemacht und sich in den Masterstudiengang eingeschrieben. Vor einigen Jahren noch hätte sie sich nie vorstellen können, bis hierhin zu kommen. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal sagen würde „ich bin glücklich“ oder „das Leben meint es gut mit mir“. Heute aber denkt sie zurück an diese Reise, die mit ein paar wichtigen Entscheidungen begonnen hat. Davon soll diese Geschichte erzählen.
Sie war Anfang 30, als sie bemerkte, dass ihr das Leben, so wie sie es lebte, nicht genug war. Die Jahre zuvor hatte sie sich hauptsächlich um ihre Kinder gekümmert und nebenher noch Tageskinder betreut. Doch immer wieder kam eine Sehnsucht in ihr auf. Worauf diese Sehnsucht gerichtet war, wusste sie nicht. Wenn man es genau nimmt, wusste sie nicht einmal, dass es sich bei diesem diffusen Gefühl um Sehnsucht handelte. Dennoch spürte sie die Auswirkungen davon. Den Drang, auf die Suche zu gehen. Warum hatte sie immer das Gefühl anders zu sein? Warum war sie sich selbst nie genug?
Durch das Zusammenspiel verschiedener Zufälle führte ihre Suche sie schließlich zu einem Intelligenztest. Als das größte Netzwerk für hochbegabte Menschen in Deutschland bietet Mensa regelmäßig kostengünstige Gruppen-Intelligenztests an, die besonders im hohen Intelligenzbereich ziemlich genau messen. Für Menschen, die diesen Aspekt ihrer Persönlichkeit gerne genauer beleuchtet haben möchten, ist das eine prima Möglichkeit.
Sie hatte eine schwierige Schullaufbahn hinter sich. Obwohl sie alles sehr schnell verstand und gerne lernte, scheiterte sie oft an den Noten. Mit den Mitschüler:innen konnte sie nur schwer connecten. Oft fühlte sie sich ausgegrenzt, manchmal wurde sie auch ausgelacht, weil sie so verträumt war und Ideen hatte, die die anderen nicht verstanden. Da die Testung einer Schulsituation ähnlich sein würde, hatte sie Angst davor. Aber die Neugier war einfach zu groß. Sie musste es wissen. Also nahm sie ihre Nervosität, die Bauchschmerzen, ihre schwitzenden Hände und die Angst mit zu diesem Termin.
Während des Tests überwiegte schließlich die Freude an den Knobeleien. Sie war bei den meisten Aufgaben sehr schnell, deshalb konnte sie immer wieder in die Runde schauen und sah die anderen Teilnehmer:innen noch grübeln. Ihre Annahme, dass sie wahrscheinlich irgendwas falsch verstanden hatte und deshalb zu schnell fertig war, bestätigte sich nicht. Denn wenige Wochen später kam ein dicker Brief von Mensa, der einen Antrag auf Mitgliedschaft enthielt. Sie war also hochbegabt. Die Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie kamen nicht heraus. Ein ganzer Klos von Gefühlen blieb ihr einfach im Hals stecken. Trauer, Wut, Freude, alles war zu einem dicken Knoten verwurstelt. Nachdem sie den Brief gelesen hatte, versteckte sie ihn erstmal. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie einen Weg finden konnte, mit dieser Information umzugehen. Der Umgang mit späterkannter Hochbegabung und den damit einhergehenden Gefühlen ist ein komplexes Thema, das einen eigenen Blogbeitrag bekommen soll. Für diese kleine Geschichte ist die Entscheidung wichtig, die sie getroffen hat. Sie hat sich für die Neugier entschieden und damit ihre Angst besiegt.
In den Wochen nach dem Testergebnis wuchs in ihr der Gedanke der Eigenverantwortung. Sie hatte nun schwarz auf weiß stehen, dass sie sehr intelligent war. Mit diesem Potenzial nichts anzufangen, wäre Vergeudung. Ein solches Geschenk durfte sie nicht einfach verschwenden. Sie entschied sich, sich probeweise bei einer Fernschule zur Abiturvorbereitung anzumelden. Ganz ohne Ziel. Erstmal nur ausprobieren. Als sie aber erstmal mit dem Lernen angefangen hatte, hörte sie nicht mehr damit auf.
„Es ist ja fast so, als lernten Sie um Ihr Leben!“, sagte ihre Therapeutin einmal zu ihr. Und sie hatte Recht. Sie lernte um ihr Leben. Um das Leben, das ihr zustand. Mehr Leben. Denn ihre Neugier auf dieses Leben war so groß geworden, dass sie sie als Waffe gegen ihre Ängste einsetzen konnte. Eine Art Superkraft.